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Recht oder Gnade

“Gefangene freizulassen, ist ein messianisches Zeichen, an dem Papst Johannes Paul II. sehr viel liegt,“ hat Rocco Buttiglione, Minister für Gemeinschaftspolitiken (d.h. für die EU) erkannt. Die Udc, der Zusammenschluss der beiden christdemokratischen Ableger im Bündnis der centrodestra, stellte sich öffentlich auf die Seite des Ministerpräsidenten. Sivlio Berlusconi hatte eine Woche vor dem historischen Besuch des Papstes im italienischen Parlament überraschend vorgeschlagen, Adriano Sofri zu begnadigen.
Sofri, der ehemalige Führer der Lotta continua, war nach acht Prozessen innerhalb von zwölf Jahren mit gegensätzlichen Urteilen in letzter Instanz wegen Mordes am Kommissar Calabresi zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt worden und ist in Pisa inhaftiert. Die beiden Mitangeklagten Giorgio Pietrostefani und Ovidio Bompressi sind in Freiheit: Pietrostefani ist geflohen; Bompressi ist im Februar aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen worden.
Bompressis Gnadengesuch war im vergangenen Sommer von Justizminister Roberto Castelli abgelehnt worden mit dem Verweis auf die aktuelle politische Lage nach dem G 8-Gipfel in Genua: Es sei inopportun, in einem Moment, da die Ordnungskräfte wegen der Geschehen im Verlauf des Gipfels unterschiedslos kriminalisiert würden, jemanden zu begnadigen, der wegen Beihilfe zum Mord an einem Polizeikommissar verurteilt worden sei. Und noch erhellender: Auf die Forderung vieler Intellektueller, Sofri freizulassen, erklärte er damals, er sei nicht gegen Gnadenakte. Begnadigungen seien aber dann möglich, wenn der Staat stark sei und heute (d.h. im letzten Sommer) sei er es nicht.
Im übrigen zog Castelli sich darauf zurück, dass Sofri kein Gnadengesuch eingereicht habe. Allerdings hätte er durchaus die Möglichkeit, persönlich beim Staatspräsidenten den Antrag für Sofri zu stellen.
Die zweite Gegenargument, nicht nur von Castelli im letzten Sommer, sondern in diesen Tagen auch von Carlo Giovanardi, Minister für die Beziehungen zum Parlament: Die Familie Calabresi dürfe damit nicht in ihren Gefühlen werden. Zum offenen Missvergnügen Calabresis hatte Gemma Calabresi allerdings schon Anfang des Jahres erklärt, sie sei nicht gegen eine Begnadigung.
Die Ermordung des Kommissars Luigi Calabresi 1972 ist verknüpft mit dem Anschlag auf die Piazza Fontana in Mailand vor 32 Jahren, bei dem es 16 Tote und 88 Verletzte gegeben hatte. Das Attentat war damals den "Linken" in die Schuhe geschoben worden. Festgenommen wurde der anarchistische Eisenbahner Giuseppe Pinelli. Nach zwei Tagen Haft stürzte er aus einem Fenster des Kommissariats. Während die Polizei Selbstmord behauptete, galt er den Linken als ermordet und Calabresi als der Mörder: Calabresi war für das zweitägige ununterbrochene Verhör verantwortlich gewesen: Er wurde später von der Anklage der fahrlässigen Tötung freigesprochen, allerdings für diese Verhörpraxis wegen Amtsmissbrauchs verurteilt. Darum galt der Mord an Calabresi als Racheakt.
Im Juni letzten Jahres waren für den Anschlag auf der Piazza Fontana drei Neofaschisten der Gruppe Ordine Nuovo zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden: den - inzwischen japanischen Staatsbürger - Delfo Zorzi als Attentäter, den venezianischen Carlo Maria Maggi als Auftraggeber und Giancarlo Rognoni für die logistische Unterstützung. Nicht zuletzt dank der akribischen Arbeit der parlamentarischen Kommission "Stragi" (Blutbäder) ist öffentlich, dass das Mailänder Attentat Teil der "Strategie der Spannung" der extremen Rechten in den "bleiernen Jahren" war. Das nährt noch immer manchen Verdacht, dass Calabresi zuviel wusste, und die Täter in der falschen Ecke gesucht wurden.
Sofri hat immer seine Unschuld beteuert. Vor allen in den letzten Verfahren waren beeindruckende Entlastungszeugen aufgetaucht, die das Gericht allerdings nicht würdigen mochte. Darum hat Sofri bisher jeden Vorschlag abgelehnt, Begnadigung zu beantragen. Statt dessen hat er jetzt den Auftritt des Papstes im Parlament zum Anlass genommen, ihn zu bitten, sich erneut - wie im Jubiläumsjahr- für eine allgemeine Amnestie einzusetzen. Damals waren 20 Staaten dem Appell des Papstes gefolgt, nicht aber Italien. Der Papst hat nun tatsächlich in seiner Rede, wenn auch in allgemeiner Form, an die Parlamentarier um ein "Zeichen des Mitgefühls" appelliert.
Der Vizepräsident des Justizauschusses, der Grüne Paolo Cento, ist der Auffassung, Sofri solle das Angebot der Begnadigung annehmen, auch wenn es nun von Berlusconi gekommen sei. Dieser habe lediglich zusammengefasst, was seit Langem eine breite Bewegung darstelle. Berlusconi sage zwar selten was Richtiges, aber wenn doch, dann solle man dies durchaus anerkennen.
In einer Umfrage des "Corriere della Sera" haben gut die Hälfte Berlusconis Äußerung zugestimmt, "die Zeit sei reif" für eine Entscheidung zugunsten Sofris.
Der Anwalt der Calabresis hat sich perplex über den plötzlichen Vorschlag Berlusconis gezeigt und fragt nach dessen Sinn. Michele Saponara, Forza Italia, möchte Berlusconis Initiative ausweiten mit dem Ziel, die "Vergangenheit zu säubern" und die Seite über die bleiernen Jahre zuzuschlagen. Auch mancher Kommentator vermutet eine ausgefeilte Regie dahinter und sieht sie als symbolischen Schluss der bleiernen Jahre.
Es bleibt zu fragen, wen alles dieser Schlussstrich einbeziehen soll. Wenn Sofri wirklich unschuldig ist, bedeutet es, dass der wirkliche Mörder unerkannt bleibt.

(c) Annemarie Nikolaus, Dezember 2002


 

Copyright © 2001 Annemarie Nikolaus
Stand: 15/01/07