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Vaganten                                            

 

 

 

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Die Schettingerin

Christine Schettinger lugte durch ein Loch in der Seitenwand des Karrens: Wald, immer noch nichts als Wald. Sie gähnte und verkroch sich unter eine zerschlissene Pferdedecke.

„He, so wirst du ganz strubbelig!" Margarethe hieb ihr ihre Flöte auf den Kopf. „Ich hab keine Zeit, dir die Haare noch mal zu richten, wenn wir in Ebersbach ankommen."

Christine fuhr hoch. „Wenn … dann ist es für heute eh zu spät, um auf dem Markt aufzuspielen. Wenn wir heute überhaupt noch ankommen. Merkst du nicht, dass der Braune lahmt?"

„Mädel, streitet euch nicht schon wieder!" Christle, ihr großer Bruder, wandte den Blick von der Straße und schwenkte die Pferdepeitsche.

Jakob, der jüngste unter den Kindern, fing an zu greinen. Christine schob ihn beiseite und nahm neben dem Bruder auf dem Kutschbock Platz. Sie schmiegte sich an ihn. „Kaufst du mir neue Schellen?"

Christle nahm die Zügel in eine Hand und strich ihr mit der anderen über die dunklen Locken. „Willst du tanzen, meine Schöne, oder willst du heiraten?"

„Je besser ich tanze, um so schneller hab’ ich das Geld für eine Heiratserlaubnis beisammen."

„Aber zuerst bin ich dran", rief Margarethe dazwischen.

„Wer will dich denn schon! So wie du ausschaust?" Christine zog die Mundwinkel deutlich nach unten, sodass es auch im Halbdunkel des Karrens nicht zu übersehen war.

„Ich wüsst’ schon einen, der mich ehrlich machen tät. Dass ich zupacken kann, zählt mehr als ein hübsches Gesicht."

„Einer mit einem ehrlichen Gewerbe freit keine Fahrende", warf die Mutter ein.

„Ich hab gehört, im Badischen haben sie den Unterschied abgeschafft", tat Christle kund. "Nicht bloß Schäfer und Töpfer, sogar Abdecker und die Gerichtsdiener sollen dort jetzt ehrliche Leut’ sein."

„Und die Welschen und die Jenischen?", wollte Margarethe wissen.

„Die haben sich das Bürgerrecht doch schon immer kaufen können. Wenn’st ein Geld hast!"

Christine schüttelte den Kopf. „Willst dich am Ende gar hinter Stadtmauern verkriechen, Gretl? Dass ich nicht lache."

„Ein Bauer wär’ schon recht", entgegnete diese.

„Dann bleibt dir aber keine Zeit mehr für deine Flöten!"

„Und wen willst du heiraten?", versuchte die Mutter, die beiden Streithennen abzulenken. Sie drückte Christine ein Wams und Stopfzeug in die Hand. „Mach dich an die Arbeit. Da draußen auf dem Bock siehst du mehr."

„Ich?", fragte Christine. Sie biss ein Stück Garn ab und befahl dem Bruder: „Halt an, dass ich einfädeln kann."

Der nickte. „Besser, ihr steigt aus und geht den Raichberg zu Fuß hoch. Wir müssen den Braunen schonen."

Margarethe knurrte. Aber Christine war es zufrieden, das Stopfzeug weglegen zu können und sprang vom Karren, noch bevor er hielt. Sie hob ihre Röcke und lief voraus.

 

Der Raichberg war kaum mehr als ein Hügel. Talwärts war der Hang abgeholzt und sie hatte den Blick frei bis hinunter zur Fils. Dahinter ragte die schiefergraue Turmspitze der Veitskirche zwischen den Häusergiebeln empor. Christine hob den Arm vors Gesicht, um gegen die Abendsonne schauen zu können, und verfolgte das Treiben an der Brücke.

Eben zog die Wache auf und schloss am jenseitigen Ende den Schlagbaum. Selbst, wer jetzt noch auf den Markt vor der Stadt wollte, bräuchte einen Pass. Sie seufzte. Wieder ein Abend, an dem es wohl nur Wurzelsuppe gäbe.

 

„Du hattest Recht", befand Margarethe, als sie schließlich neben dem Karren die Bergkuppe erklomm, „wir sind zu spät."

Christine zuckte die Schultern, nahm Jakob an der Hand und ging den Pfad hinunter, den heimwärts ziehenden Bauern entgegen. „Flenn", befahl sie dem Bruder, während er mit ihr bergab stolperte.

„Ich kann nicht; lauf nicht so schnell", jammerte dieser.

„So." Sie schubste ihn zu Boden und da er immer noch nicht weinte, schlug sie ihm kurzerhand ins Gesicht.

„Christin’", heulte er auf.

Als sie an der Straße ankamen, war Jakobs Gesicht rotz- und tränenverschmiert und er schluchzte vor sich hin. Christine löste das rote Tuch, das den Ansatz ihrer Brüste verdeckte, und schlang es um die Taille. Sie musterte die Wagen, taxierte die Pferde, die sie zogen. Dem fünften schließlich, auf dem ein Bauer in mittleren Jahren saß, stellte sie sich in den Weg; den Arm hatte sie liebevoll um den weinenden Jakob gelegt.

„Herr, mein Bruder hungert", sprach sie mit leiser Stimme. Sie versank in einem tiefen Knicks, dem Mann dabei einen großzügigen Blick auf ihre Blöße gewährend. „Hat Er vielleicht ein Stück Brot für ihn?"

Der Bauer leckte sich über die Lippen und kratzte sich dann am Kopf. „Nein", sagte er schließlich.

Christine, die ihn unverwandt ansah, ließ Tränen in ihren Augen schimmern.

„Nicht weinen, schönes Kind." Er zog seinen Beutel aus dem Wams und begann darin zu kramen. Christine sah es zwischen den Fingern blinken und warf ihrem Bruder einen verstohlenen Blick zu. Jakob heulte lauter und ging näher. Der Bauer sah auf und reichte dem Jungen einen halben Kreutzer. „Hier; da kannst du dich morgen satt essen auf dem Markt."

„Der Herrgott segne Ihn." Christine knickste erneut und trat dicht an ihn heran. „Ich dank Ihm, Herr." Ihre Augen blitzten und ein Lächeln malte Grübchen auf die Wangen.

Auch der Bauer lächelte, beugte sich dann zur Seite und öffnete eine der Kisten, die auf dem Wagen gestapelt waren. Er nahm zwei Eier heraus und gab sie Christine. „Und damit ihr nicht hungrig schlafen geht." Er nickte ihr zu und trieb sein Pferd an.

Jakob zupfte sie am Rock.

„Still!" Sie zog ihn von der Straße fort. Nach einigen Schritten drehte sie sich noch einmal um und schaute dem Bauern hinterher. „Lauf!"

 

Vor dem Karren auf dem Raichberg brannte schon ein Feuer und Margarethe füllte am Bach den Suppenkessel; Christine brachte ihr die beiden Eier.

„Immerhin." Die Mutter nickte anerkennend.

„Wir haben noch mehr!" Mit strahlenden Augen zog Jakob den halben Kreutzer aus der Tasche.

Christine tauchte ihr rotes Tuch in den Bach und setzte sich dann neben ihn. „Wir kommen nicht mit, wenn ihr morgen auf den Markt geht", sagte sie, während sie Jakob behutsam den Schmutz aus dem Gesicht wischte.

Christle knabberte an seiner Unterlippe. „Ich dachte, du wolltest dir einen Liebsten suchen?"

„Ich find schon einen, wenn ich einen brauch’." Christine lächelte und wiederholte Jakobs Worte: „Wir haben noch mehr!"

Sie griff in ihre Rocktasche und holte den Beutel des Bauern hervor.

 

© Annemarie Nikolaus

 

 

 

Copyright © 2001 Annemarie Nikolaus
Stand: 26/07/04